„Seht, da ist der Mensch“
Der Mädchenchor am Kölner Dom beteiligt sich mit der Uraufführung eines Oratoriums von Colin Mawby und einem A-Cappella-Konzert am Leipziger Katholikentag
Für die Kölner Dommusik ist es eine Premiere, wenn sie am Donnerstag und Freitag zum ersten Mal an einem Katholikentag teilnimmt. Dann aber gleich mit zwei Konzerten, von denen eines zudem noch eine Uraufführung ist. Denn gemeinsam mit den Dresdner Kapellknaben wird eine Auswahl des Mädchenchores am Kölner Dom unter der Leitung von Oliver Sperling beim 100. Katholikentag in Leipzig an einem musikalischen Höhepunkt in der Nicolaikirche beteiligt sein: dem Oratorium „Ecce homo“ von Sir Colin Mawby. Vom 25. bis 29. Mai wartet das katholische Großereignis in Sachsens zweitgrößter Stadt mit einem breiten Kulturprogramm auf, bei dem etwa 300 der rund 1.000 Veranstaltungen dieses Kirchentreffens den kulturellen Schwerpunkt bilden werden. Dazu gehören Projekte aus den Bereichen Musik, Literatur, bildender Kunst, Film, Theater und Kabarett, die die vielen Podiumsdiskussionen, Foren, Workshops, Beratungs- und Mitmachangebote rund um die zentralen Themen Glaube und Kirche in einem immer säkulareren Umfeld sinnvoll und attraktiv ergänzen. Das Oratorium wird in diesem Kontext bereits vorab als „Highlight“ beworben, zu dem sich fünf sehr unterschiedliche Chöre – allesamt aber von Spitzenniveau – zusammengefunden haben. Mit den Dresdner Kapellknaben unter der Leitung von Domkapellmeister Matthias Liebig formieren sich die Mädchen aus Köln zu dem für dieses Werk vorgesehenen Kinderchor, während das Vocalconsort Leipzig, die Biederitzer Kantorei und der Sankta Eugenia församling Chor aus Stockholm den Part des gemischten Erwachsenenchors übernehmen.
"Bislang haben wir beim Studium der Partitur diese Komposition immer nur in Ausschnitten hören können, weil uns natürlich die anderen Chöre noch für den Gesamteindruck fehlten. Das vollständige Werk werden wir zum ersten Mal erleben, wenn bei den Proben vor Ort die einzelnen Passagen und Tutti-Stellen zu einem großen Ganzen zusammengefügt werden und sich erst dann die musikalische Aussagekraft dieses Stücks erschließt“, erklärt Oliver Sperling. „Was jedoch jetzt schon klar ist: ‚Ecce homo’ ist ein typischer Mawby“, sagt der Domkantor, zu dessen festem Repertoire einige Motetten des Engländers zählen. Bekannt in Köln ist Mawby aber vor allem auch durch seine Halleluja-Coda, die regelmäßig in den Dom-Hochämtern gesungen wird. Sogar persönlich begegnet sind sich Sperling, sein Chor und der heute 80-Jährige, der in seiner britischen Heimat als einer der berühmtesten zeitgenössischen Komponisten sakraler Musik gilt, schon einmal. Und zwar 2012 beim internationalen Chorfestival „Pueri cantores“ in Granada, als der Mädchenchor bei einem Friedensgebet zwei Motetten von Mawby aufführte. Auch diesmal darf das Ensemble auf ein Treffen mit dem Londoner Musiker gespannt sein. Denn Mawby wird die zweitägige Probenarbeit dieses vom Katholikentag in Auftrag gegebenen Werkes, das er für Orchester, Sopran-Knabensolo, Kinderchor und gemischten Chor geschrieben und den mutigen Menschen der friedlichen Revolution von 1989 gewidmet hat, aufmerksam begleiten. Das Werk gliedert sich in 14 deutsch- und englischsprachige Sätze, bei denen sich der deutsche Choral „Wer nur den lieben Gott lässt walten“ wie ein Leitmotiv durch das Gesamtwerk zieht. Andere Teile beziehen sich beispielsweise auf die Seligpreisungen – „The beatitudes“ – oder auf das Auferstehungsgeschehen mit den Überschriften „Christus vincit“, „Christ ist erstanden“ oder dem finalen „Halleluja“.
Beim zweiten Konzert am Folgetag in der neu errichteten Propsteikirche ist es dann ein A-Cappella-Konzert, bei dem der Mädchenchor wieder eines von mehreren Ensembles stellt, allerdings ein eigenes Programm mit Chorleiter Sperling aufführt. Hier singen die Kölnerinnen vor allem zeitgenössische Kompositionen, für die sie mittlerweile bundesweit als Spezialistinnen gelten. Neben Motetten von Gyrowetz, Mendelssohn und Verdi steht dann die Interpretation der Chorsätze „Jubilate Deo omnis terra“ von Mawby, „Jauchzet Gott, alle Lande“ von Walter Schmid, „Zwei Beter“ von Arvo Pärt und „O come, let us sing“ von Egil Hovland ganz oben an.
Das diesjährige Katholikentagsmotto "Seht, da ist der Mensch" greift ein Zitat von Pontius Pilatus auf, das in der lateinischen Bibelfassung nach dem Evangelisten Johannes als der Ausspruch "Ecce homo" überliefert ist. In einer Stadt, die als alles andere als eine Hochburg deutschen Katholizismus gelten kann, sollen mit diesem Wort das Menschsein und die menschliche Würde in den Mittelpunkt gestellt werden. Die damit zusammenhängenden Fragen aus Gesellschaft und Wissenschaft, aus der modernen Biologie und Medizin, der Wirtschaft und globalen Entwicklung, beträfen Gläubige wie Konfessionslose in gleicher Weise, argumentieren das Zentralkomitee der deutschen Katholiken (ZdK) und das Bistum Dresden-Meißen als Veranstalter. In Sachsen sind 75 Prozent der Bevölkerung konfessionslos. Bedingt durch die ostdeutsche Geschichte und das DDR-Regime, gibt es zum Teil schon seit Generationen keine kirchlich-religiöse Sozialisation mehr. Selbst Grundkenntnisse über das Christentum als Volkskirche mit ihren Ritualen und Bräuchen können hier nicht mehr als allgemeines Kulturgut vorausgesetzt werden. Neben Tschechien gehört Ostdeutschland zu den am stärksten entchristlichten Landstrichen Europas. Von den 570.000 Einwohnern Leipzigs sind nur rund vier Prozent katholisch.
Die Uraufführung des Oratoriums "Ecce homo" von Colin Mawby beginnt am 26. Mai um 19 Uhr in der Leipziger Nicolaikirche. Die Interpreten sind: die Dresdner Kapellknaben, der Mädchenchor am Kölner Dom, das Vocalconsort Leipzig, die Biederitzer Kantorei, der Sankta Eugenia församling Chor/Stockholm und die Camerata Lipsiensis als Orchester. Als Solisten wirken mit: Daniel Beilschmidt, Orgel, Tobias Ay, Bariton, und Kathleen Danke, Sopran. Die Gesamtleitung hat Frank-Steffen Elster.
Das Konzert in der Propsteikirche mit dem Mädchenchor am Kölner Dom beginnt am 27. Mai um 15 Uhr. Mit von der Partie sind die Schola Cantorum unter der Leitung von Marcus Friedrich und die Mädchenkantorei am Paderborner Dom unter der Leitung von Gabriele Sichler-Karle.
Beatrice Tomasetti