Dem Weltchaos Verantwortlichkeit entgegensetzen
50 Mädchen und Jungen der Domchöre wirken bei der Oper „Jeanne d’Arc“ von Walter Braunfels im Staatenhaus mit
So in etwa muss es aussehen – nach einem Tsunami, wenn sich die Naturkatastrophe Bahn gebrochen, die gigantische Welle ihr unbarmherziges Zerstörungswerk angerichtet und ein Trümmerfeld hinterlassen hat, aus dem die willkürlich verstreuten Elemente einstiger Zivilisation wie Relikte von Ordnung und zu ahnender Strukturen als wirre Mahnmalen aus dem Chaos herausragen. Als eine auf dem Kopf stehende, aus den Fugen geratene Welt – vergleichbar den zu Momentaufnahmen eingefrorenen „Fallenbildern“ eines Daniel Spoerri.
Jedenfalls präsentiert sich mit solchen Assoziationen das Bühnenbild zu „Jeanne d’Arc“, der zwischen 1938 und 1942 von Walter Braunfels geschriebenen Oper mit „Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“. Überall unbrauchbar gewordene Überreste menschlichen Lebens, Müll: ein versenkter Autotorso, ein hochkant aufgerichteter Konzertflügel, das zerschollene Motorflugzeug, gestrandete Holzkanus - aufgetürmt bis sprichwörtlich unters Dach. Als sperriges Hindernis. Und doch mittendrin der Mensch in seiner Verletzbarkeit, mit seiner Geschichte, seinen Visionen. Der sich allen Barrieren zum Trotz zur Wehr setzt und der Vernichtungsmaschinerie sein Credo an das Gute, den Ausweg und den Neubeginn entgegenhält. Der Interpretationsspielraum der überladenen Kulisse ist grenzenlos – so wie die Phantasie des Opernbesuchers, dem seinerseits kaum Übersetzungshilfen zur Seite gestellt werden.
Doch wer mit den biografischen Grunddaten der „Jungfrau von Orleans“ vertraut ist, mit der Literaturvorlage zur jungfräulichen Kriegerin in Männerkleidung, die die französischen Truppen 1429 im sogenannten hundertjährigen Krieg gegen die englischen Besatzer anführt und als Märtyrerin endet, wird bei dieser ins Heute transferierten Inszenierung von Tatjana Gürbaca kaum die eher selbstverständlich erwartete Kathedrale von Reims vermissen oder die fürs Mittelalter üblichen Requisiten und prachtvollen Kostüme, die hier stattdessen von nüchterner, schmuckloser und oft genug ironischer Alltäglichkeit sind. „Entscheidend ist doch der Inhalt, das heißt der Auftrag, den Johanna angenommen hat, als sie verstanden hat, dass Gott etwas ganz Besonderes mit ihr vorhat“, sagt Johanna Kurth. Die Elfjährige, die zum ersten Mal als Mitglied des Mädchenchores am Kölner Dom bei einem der regelmäßigen Opernprojekte der Kölner Dommusik mit dabei ist, kennt jedes Detail ihrer großen Namenspatronin und hat den anderen Mitwirkenden – für die zwei erforderlichen Besetzungen sind es in der Summe auch bei dieser Oper wieder insgesamt 50 Mädchen und Jungen beider Domchöre – alles Wissenswerte über „Jeanne d’Arc“, das Bauernmädchen mit der Berufung zum politischen Handeln aufgrund ihrer religiösen Visionen, mitgeteilt. „Mir gefällt am besten an dieser Heiligen, dass sie schon ganz jung Gott vertraut hat und sich sogar mit ihrem Vater angelegt hat, um in die Kirche gehen zu können. Natürlich ist tragisch, dass sie am Ende auf dem Scheiterhaufen verbrannt wird. Denn ihre Mission war gut. Und sie war mutig. Zu Unrecht wird sie als Ketzerin verurteilt und mit dem Tod dafür bestraft.“
Gürbaca aktualisiert den Stoff der Heiligen Johanna, für den der Komponist Walter Braunfels auf der Grundlage der originalen Prozessakten und unter der Einwirkung des Nationalsozialismus auch das Libretto selbst geschrieben hat, zum Teil mit verstörenden Bildern und sorgt damit stellenweise für reichlich Irritation: Welche Rolle übernimmt der Chor, dessen Bedeutung von Szene zu Szene wechselt? Wie werden die beiden Heiligen Katharina und Margarete gesehen, die Johanna ebenfalls im Traum erscheinen? Wie der linkisch agierende Thronfolger Karl, wenn er im Schlafanzug – der Lächerlichkeit preisgegeben - über die Bühne tänzelt? „Es ist ein hochaktuelles Stück, das durch die Figuren und die Musik direkt zu uns spricht. Die porträtierte Welt ist in Verunsicherung, Aufruhr und Chaos – und Braunfels zeichnet das Bild einer Person, die die Menschen zu Verantwortlichkeit für ihre Welt aufruft“, sagt Gürbaca selbst dazu und überlässt weitere Denkansätze oder Decodierungen verschlüsselter Botschaften bewusst dem Zuschauer.
Tatsache ist, dass diese Kölner Erstaufführung des „Halbjuden“ Braunfels und späteren Konvertiten zum Katholizismus, der in 1920er Jahren zu einem der meistgespielten Opernschöpfern seiner Zeit zählte, von den Nazis aber dann mit einem Aufführungsverbot seiner Musik belegt wurde und nach dem Krieg nicht wieder an seine Glanzzeit anknüpfen konnte, posthum viele Fans hat. Allen voran Intendantin Birgit Meyer, wenn sie sagt: „Seine Musik ist nicht nur schön, sondern auch authentisch, ehrlich, um Wahrheit bemüht. Die Figur der Johanna hat er mitreißend dargestellt. Diese Reinheit, dieser Idealismus, diese Kraft inmitten von Intriganten!“ Auch Domkantor Oliver Sperling, der die vielen Szenenproben der Sängerinnen und Sänger beider Kinderchöre am Dom von Anfang an begleitet hat, schwärmt: „Das ist geniale Musik. Und einmal etwas ganz anderes als alles Bisherige, was wir je in der Oper mitgemacht haben. Hier können wir auf nichts zurückgreifen – wie sonst bei der Wiederaufnahme eines Stücks. Da es sich bei ‚Johanna’ um eine Erstaufführung handelt, mussten die Kinder Musik und szenisches Spiel komplett neu erarbeiten. Für die Hauptproben haben die Knaben und Mädchen sogar auf die karnevalsfreien Tage verzichtet und waren stattdessen sehr fleißig.“ Hinzu komme, dass sie sich nach den Erfahrungen von "La Bohème" in Saal 2 des Deutzer Staatenhauses auf einer halbwegs "normalen“ Bühne nun mit einem ungewöhnlichen Steg, der das Orchester in zwei Teile trennt und bis in die ersten Reihen des Zuschauerraums verlegt ist, auseinandersetzen und ihre Einsätzen mitunter sogar ohne direkten Sichtkontakt zum Dirigenten bewältigen müssten.
„Die musikalische und historische Dimension dieser Aufführung ist für Köln von großer Bedeutung“, urteilt sichtlich angetan auch Domkapellmeister Eberhard Metternich, der sich die engmaschige Probenarbeit und die Anleitung der jungen Sängerinnen und Sänger bei den insgesamt acht Aufführungen auch diesmal wieder mit seinem Chorleiterkollegen teilt. „Was heute kaum noch jemand weiß: Braunfels zählte neben Schönberg, Richard Strauss und Hindemith zunächst zu den ganz großen spätromantischen expressionistischen Komponisten der Weimarer Zeit und ist zudem eines der Gründungsmitglieder der Kölner Musikhochschule“, sagt er. „Auch wenn seine Kunst ab 1933 als ‚entartet’ galt – er hatte zehn Jahre zuvor der Bitte Hitlers nach einer Parteihymne nicht entsprochen -, konnte er nach Kriegsende unter Adenauer die pädagogische Ausbildungsstätte wieder neu etablieren.“ Deshalb verdanke ihm die Kölner Kulturszene viel. „Johanna“ gelte nicht gerade als leichte Kost – auch für die Kinder nicht. „Aber die emotionale Berührung kommt mit der Kenntnis dieser Musik. Über das Einhören gewinnt man allmählich immer mehr Nähe“, erklärt Metternich. Andererseits hätte der Kinderchor geradezu eine Parade-Rolle. Mit dem „Gloria patri et filio…“ könnte er stellenweise sogar eine Art geistlicher Atmosphäre schaffen, auch wenn es sich beim letzten Einsatz nur um eine pseudogottesdienstliche Szene handele.
Erst spät, im 21. Jahrhundert, fand das Werk „Jeanne d’Arc“ sein Publikum; die konzertante Uraufführung fand 2001 in Stockholm statt, die szenische 2008 in Berlin. Am Dirigentenpult in Köln steht mit Lothar Zagrosek nun ein Braunfels-Kenner, den – so ist zu lesen – „Braunfels' Tonfall zwischen spätromantischer Emphase und neuer Sachlichkeit mit ihren Stilbrüchen ausgezeichnet“. Solche Brüche werden analog augenfällig auch in der Regie: zum einen katholischer Prunk und Kitsch, wie man ihn kennt und fürchtet, zum anderen eine Fülle ironischer Zwischen- und Untertöne in den oft überparaphrasierten Gesten, Symbolen und Anspielungen – auch auf manches, was in der katholischen Kirche im Argen liegt. Fazit: Braunfels selbst kann nur über seine Musik verstanden werden. Er hatte zur Entstehungszeit seiner Komposition nicht damit rechnen können, „Johanna“ als Ganzes zu erleben. Was ihm aber mit Fug und Recht unterstellt werden darf, ist eine mit diesem Stoff bewusst getroffene Wahl und eine sich daraus ableitbare Mahnung, die auch 75 Jahre nach Entstehung dieser Oper aktueller denn je gilt: für die eigenen Überzeugungen einzutreten, dafür auch manchmal gegen den Zeitgeist anzukämpfen und - dafür sorgt gerade diese Inszenierung ganz gewiss – in den Müllbergen der Beliebigkeit unmissverständliche Marksteine der Orientierung zu setzen.
„Jeanne d’Arc – Szenen aus dem Leben der Heiligen Johanna“mit Juliane Banse (die szenische Rolle der Johanna übernimmt Regisseurin Tatjana Gürbaca) Justyna Samborska, Judith Thielsen, Adriana Bastidas Gamboa, Dongmin Lee; Ferdinand von Bothmer, Matthias Klink, Luke Stoker, Martin Koch, Dennis Wilgenhof, Ralf Rachbauer, Oliver Zwarg, Bjarni Thor Kristinsson, John Heuzenroeder, Christian Miedl, Alexander Fedin, Chor und Extra-Chor der Oper Köln, Mädchen und Knaben des Kölner Domchores, Gürzenich-Orchester Köln. Die musikalische Leitung hat Lothar Zagrosek, am 24. Februar Matthias Foremny. Inszenierung: Tatjana Gürbaca. Die nächsten Vorstellungen sind am 17., 19., 21., 24. und 26. Februar jeweils um 19.30 Uhr sowie am 28. Februar und am 6. März um 16 Uhr.
Achtung: Am heutigen 23. Februar 2016 wurde bekannt gegeben dass die Vorstellungen am 24., 26, und 6. März aus Krankheitsgründen ausfallen müssen.
Beatrice Tomasetti