„Bei dieser Musik spürt man den direkten Link zu Gott“
Der neue Gürzenich-Kapellmeister und Kölner Generalmusikdirektor François-Xavier Roth im Gespräch mit der Kölner Dommusik
Seit Anfang September ist François-Xavier Roth Gürzenich-Kapellmeister und Generalmusikdirektor in Köln. Bis 2016 hat er außerdem seinen Vertrag als Chefdirigent des SWR-Sinfonieorchesters Baden-Baden und Freiburg verlängert. François-Xavier Roth, 1971 in Paris geboren, begann seine Musikerkarriere als Flötist und studierte dann Dirigieren am Pariser Conservatoire. 2000 gewann er den ersten Preis beim Internationalen Donatella-Flick-Dirigentenwettbewerb. Als Gastdirigent leitet er weltweit führende Orchester, darunter das Ensemble Intercontemporain, das London Symphony Orchestra, das BBC Symphony Orchestra, das Boston Symphony Orchestra, das Royal Concertgebouw Orkest, das Bayerische Staatsorchester, die Bamberger Symphoniker und das NHK Symphony Orchestra. Im Kölner Dom setzt er am 2. Oktober mit dem „großen Domkonzert“ die unter seinem Vorgänger Markus Stenz begründete Kooperation mit der Kölner Dommusik fort.
Herr Roth, Sie sind für Experimentierfreudigkeit und ungewöhnliche Programmgestaltungen bekannt. Nun ist es auffällig, dass Sie nach Köln grundsätzlich viel Musik aus Ihrer Heimat Frankreich mitgebracht haben und damit keinen Zweifel an Ihren Vorlieben und bewussten Akzentuierungen aufkommen lassen. Beim „großen Domkonzert“ werden Sie das Gürzenich-Orchester in Kooperation mit der Kölner Dommusik dirigieren. Auf dem Programm stehen „Les Offrandes oubliées“ von Oliver Messiaen aus dem Jahr 1930, die „Litanies à la Vierge noire“ von Francis Poulenc aus dem Jahr 1936 sowie das Requiem op. 48 von Gabriel Fauré, das als eines der wenigen religiösen Werke des Komponisten gilt. Wie kam es zu dieser Melange?
Roth: In der Tat stellte sich für mich als erstes die Frage: Was geht für uns als Musiker überhaupt in dieser überwältigenden Kirche? Die Antwort war nicht leicht. Zum einen ist der Kölner Dom ein Raum, in dem Musik sehr gut klingen kann. Zum anderen aber muss man unbedingt alle Parameter dieser eigenwilligen Akustik beachten. Diese besonderen Bedingungen und dann auch mein Neustart als Gürzenich-Kapellmeister und Generalmusikdirektor in Köln führten dazu, dass ich die „touche francaise“ – die französische Taste - drücken wollte. Für mich als Franzose lag nahe, die Werkauswahl auch als eine besondere Geste an mein Publikum zu verstehen. Außerdem muss man wissen, dass ich zur Musik über die Kirchenmusik kam. Mein Vater Daniel war in den 1970er Jahren zunächst Titularorganist an Sacré-Cœur auf dem Montmartre in Paris, später dann an St. Sulpice. Als Kind war ich sehr oft mit dabei, wenn er spielte. Von daher habe ich früh sehr unterschiedliche Musik kennengelernt. Vor allem die geistliche Musik meines Vaters ist mir seit Kindheitstagen sehr vertraut.
Mit diesen drei – vielleicht bis auf Faurés Requiem - in Deutschland weniger populären Stücke bedienen Sie nicht unbedingt den Geschmack eines breiten Publikums. Werden sich die Kölner an diese Art von Exotik gewöhnen müssen?
Roth: Unabhängig davon, wo ich dirigiere – ob in der Philharmonie, im Dom oder auch in anderen Konzertsälen – geht es mir immer um eine ausgewogene Balance dessen, was als sehr bekannt und als weniger bekannt gilt. Das Requiem von Fauré zählt für mich dabei zu der populäreren Literatur, „Les Offrandes oubliées“ von Messiaen als auf den ersten Blick nicht direkt erkennbare geistliche Musik – und auch allein für Orchester - ist dagegen sicher weniger bekannt. Doch bei jedem Konzert stellt sich die Frage nach der Architektur eines Programms, also wie man die einzelnen Kompositionen zueinander stellt, welche Perspektive man eröffnen und welche Hörerfahrungen man dem Publikum anbieten will. Fauré ist zweifelsohne wunderbare Musik. Messiaen hat als Kirchenmusiker fast ausschließlich spirituelle Musik geschrieben, und Poulenc hat diese wunderbaren „Litanies à la Vierge noire“für Frauenstimmen alleine komponiert. Mit dieser Auswahl setze ich also bewusst Kontrapunkte. Wenn das Fauré-Requiem erst am Ende des Programms steht, hört man es auch nochmals anders, als erklänge es gleich zu Beginn. Es ist folglich eine spannende Erfahrung, eine Komposition in einem jeweils individuellen musikarchitektonischen Kontext zu erleben und sich als Hörer diesem Angebot zu öffnen.
Was fasziniert Sie ganz konkret an den „Litanies à la Vierge noire“, die Poulenc 1936 unter dem Eindruck des Unfalltodes eines engen Freundes schreibt und womit er sich dann erneut dem katholischen Glauben zuwendet?
Roth: Es gibt viele interessante Aspekte in der Musik Poulencs. Man muss bedenken, dass ein Komponist immer auch ein Kind seiner Zeit ist. In diesem Fall ist es der „Salon Parisienne“, in dem sich Francis Poulenc bewegt. Er führt ein reiches chices Leben: sehr mondän und – wenn Sie so wollen – auch dekadent und gar nicht vorbildlich. Trotzdem hat gerade seine Kirchenmusik eine ungeheure Überzeugungskraft. Die Litaneien gehören zu seinen besten Werken. Sie sind eine Hommage an die „reine“ Musik. Anders als das „Gloria“ von ihm, das sehr geläufig ist und für dieses Konzert zu lang gewesen wäre, gehören die „Litanies à la Vierge noire“ zu den weniger bekannten Kompositionen Poulencs. Sie sind von geradezu faszinierender Naivität und musikalischer Klarheit - wie übrigens auch seine Oper „Dialogues des Carmélites“, die eine sehr direkte Einfachheit auszeichnet. Ich kenne dieses Stück schon sehr lange und wollte es jetzt im Dom unbedingt bringen. Hierhin passt es ganz wunderbar. Denn in dieser Musik können wir sehr direkt den „Link“ zu Gott spüren.
Von den Litaneien gibt es zwei Versionen: die mit Orgel und eine für Orchester…
Roth: Ja, und wir werden beide spielen, weil es ein kurzes Stück ist und ich Freude an der Idee hatte, für diesen besonderen Aufführungsort eine Dramaturgie zu entwickeln, die der Musik zugute kommt. Wie wir das genau machen, habe ich mit Herrn Sperling abgesprochen. Mehr wird nicht verraten. Das soll für die Zuhörer einen Überraschungseffekt haben.
Sie sprachen von Ihrem Vater Daniel Roth – selbst bekannter Komponist und Organist – und davon, dass er Sie früh mit Musik und Musikern in Kontakt gebracht hat. Haben Sie Oliver Messiaen noch persönlich kennengelernt? Und warum fiel die Wahl auf diese symphonische Meditation für Orchester?
Roth: Es gab eine Zeit, da kam Oliver Messiaen jede Woche in die Kirche Sacré-Cœur. Er gehörte zur Gemeinde und kam nicht nur als Kirchenmusiker, sondern auch als Gläubiger. Bei dieser Gelegenheit lernte ich ihn kennen. Aber da war ich noch ein Kind. Mein Vater und ihn verbanden viele Gespräche über die Musik und eine große gegenseitige Wertschätzung. Messiaen ist ein zutiefst religiöser Mensch gewesen. Einem eigenen Kommentar zur Folge hat er „Les offrandes oubliées“ als eine Art Altar-Triptychon angelegt mit den Teilen „Kreuz“, „Sünde“, „Eucharistie“. Ich mag diese Musik sehr.
Sie haben bereits in so vielen Konzertsälen dieser Welt dirigiert. Wie spannend ist für Sie die Herausforderung „Kölner Dom“?
Roth: Zum ersten Mal war ich im Kölner Dom als Zehnjähriger mit meinem Vater. Es war während der Ferien. Da waren wir oft in Deutschland; auf diese Weise lernte ich auch immer besser Deutsch. Diese imposante Kathedrale hatte für mich schon immer etwas von einem Zauber. Ihre Größe, aber auch ihre Atmosphäre sind seither etwas Besonderes für mich. Dass ich einen Konzertsaal, in dem ich auftrete, zuvor nicht kenne, erlebe ich als Dirigent ja immer wieder. In Bezug auf den Dom bin ich nun in großer Vorfreude, dort zu arbeiten, und sehr gespannt, wie das Programm dort klingen wird. Der Kölner Dom ist ein so wichtiger Ort, eine bedeutsame Institution – auch für das Kölner Musikleben – und für mich persönlich einfach etwas Unglaubliches. Die „Gürzenicher“ kennen diesen Ort inzwischen sehr gut. Von dieser Erfahrung des Orchesters werde ich zweifelsohne profitieren.
Bei Ihrer ersten Pressekonferenz in Köln haben Sie angedeutet, dass Sie neue - unkonventionelle - Aufführungsräume erschließen wollen, dass Sie das Projekt „Dom“ interessiert und dass Sie sich mit der Kölner Dommusik die Entwicklung neuer Perspektiven vorstellen können. Wie könnten diese aussehen?
Roth: Als Dirigent würde ich mir wünschen, dass wir – was den Dom angeht – noch sehr viel großzügigere Überlegungen anstellen, wie wir dort noch umfänglicher und mit viel Freude Musik machen können. Das ist eines meiner zentralen Anliegen für die Musik in Köln. In den vielen leuchtenden Kirchenfenstern dieses Domes spiegeln sich unterschiedliche Epochen und Perioden. Und genau so sollte man auch die Musik zelebrieren, die historische Kraft und Bedeutsamkeit des Raumes nutzen und mit großen Ensembles dort regelmäßig sowohl alte als auch neue Musik spielen. Ich freue mich sehr, dass zu meinen ersten Schritten in Köln dieses Konzert im Dom gehört und ich damit in gewisser Weise meinen „Einstand“ gebe.
Das Interview mit François-Xavier Roth führte Beatrice Tomasetti