Schulstress - beinahe wie im wirklichen Leben...
An der Ravel-Oper „L’ enfant et les sortilèges“ im Kölner Staatenhaus sind 40 Kinder der Kölner Dommusik beteiligt
„Ich habe keine Lust, meine Aufgaben zu machen“, stöhnt das Kind missmutig und krakelt mit Tinte Unlesbares auf die übergroßen Seiten seines Schulheftes. Es will stattdessen lieber nach draußen gehen oder den Kuchen aufessen, den Kater oder das Eichhörnchen ärgern, vor allem aber mit der Mutter tauschen und sie – anstatt seiner selbst – nachsitzen lassen.
Dabei läuft der kleine Strolch unruhig hin und her, stützt dann wieder den Kopf in beide Hände und brütet in seiner Phantasie einen Schabernak nach dem anderen aus. Als sich die Mutter nach den Ergebnissen der Hausarbeiten erkundigt, streckt das Kind ihr kurzerhand die Zunge heraus. Die Mutter, entsetzt von so viel Frechheit, droht zur Strafe mit trockenem Brot zum Abendessen und einer Isolationsmaßnahme. Wieder packt das Kind die Wut. Zerstören will es nun alles, was mit den Erwachsenen zu tun hat. Ungestüm verwüstet es sein Zimmer und quält erbarmungslos die unschuldigen Haustiere. Dem Anfall von Aggression folgt der triumphierende Ausruf: „Ich bin böse und frei!“
Doch mit einem Mal geschehen wundersame Dinge: Die Gegenstände im Zimmer – die Möbel, die Uhr, die Teekanne, das Kaminfeuer, der Schäfer auf der Tapete, aber auch die Zahlen der Arithmetikübungen – entwickeln ein Eigenleben und fangen an, sich zu bewegen. Plötzlich bedrängen der Mathematiklehrer und Katzen das Kind. Und der Albtraum geht immer noch weiter: Frösche, Libelle, Fledermaus und andere Tiere machen ihm Vorwürfe, greifen es an und beginnen schließlich, einander gegenseitig zu bekämpfen. Ein Eichhörnchen wird aus dem Gewühl der raufenden Tiere hinausgeschleudert, woraufhin ihm das Kind einfühlsam die Pfote verbindet. Da erstarren die übrigen Tiere und verstummen. Der Spuk hat ein Ende. Mit einer verklärenden Fuge endet das 18-teilige Stück. Ein letztes „Maman“ lässt Wiedergutmachung und Aussöhnung mit der Mutter erahnen.
Ein bisschen übertrieben sei eine solche Reaktion auf Schulstress aus Schülersicht schon, kommentiert Laura lachend das Libretto „Das Kind und der Zauberspuk“ von Sidonie-Gabrielle Collette, die sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts diese Geschichte einfallen ließ, um Maurice Ravel zu der Komposition einer „lyrischen Phantasie“ zu inspirieren. Aber teilweise nachvollziehen könne sie das Verhalten der Hauptfigur trotzdem, räumt sie augenzwinkernd ein. Denn Frustrationsphasen beim Lernen, wenn gerade nichts mehr geht, kennt die Zwölfjährige nur allzu gut. „Im echten Leben macht es doch auch nicht immer Spaß, für die Schule zu lernen“, schlägt Laura eine Brücke zwischen der Kunstwelt und ihrer eigenen Realität. Es sei schon lustig, dass sie hier auf der Bühne ausgerechnet etwas spiele, was ihr und allen anderen auch aus dem Alltag sehr vertraut sei. Laura ist eines von 40 Dommusik-Kindern, die an dem Ravel-Doppelabend der Kölner Oper im Deutzer Staatenhaus beteiligt sind und zum ersten Mal Musiktheater unter der Leitung von Generalmusikdirektor Francois-Xavier Roth erleben.
Aber die Probenarbeit mit dem Orchesterchef sei völlig entspannt verlaufen, findet sie. „Und lustig“, ergänzt Mitsängerin Louise fröhlich. „Immer hatte er witzige Vergleiche parat, um uns zu veranschaulichen, worauf es ihm ankommt. Zufrieden war Herr Roth dabei eigentlich nie, dafür gab es viel zu viel auf einmal zu beachten. Aber er hat uns immer wieder neu motiviert, beim Singen die richtigen Atempausen zu machen und besonders auch unsere französische Aussprache zu verbessern, damit wir gut zu verstehen sind. Er arbeitet einfach sehr gut mit Kindern“, urteilt die Siebtklässlerin, die sich bereits zum vierten Mal zu einem Opernprojekt gemeldet hat. „Schauspielen und gleichzeitig singen – das ist einfach toll und eine schöne Abwechslung zu der sonst üblichen Chorarbeit. Außerdem ist es auch eine Chance, das eigene Talent weiterzuentwickeln“, fügt sie hinzu. Bei dieser Einschätzung ist sie sich mit Felix einig, der mit seinen 13 Jahren schon fast als „Routinier“ gelten kann. Für ihn ist der Ravel-Auftritt nämlich mittlerweile schon der sechste, bei dem er mit dabei ist. „Hier haben wir an etwas Großem teil“, schwärmt er von dieser musikalischen Erfahrung außer der Reihe – und von der Begegnung mit den „richtig großen Opernsängern“. Die Kombination aus Theater und Gesang mache für ihn das Mitmachen in der Oper so reizvoll.
Ab dem kommenden Sonntag steht an zehn Abenden „L’enfant et les sortilèges“ in der Kombination mit „L’heure espagnole“ – so die französischen Originaltitel der beiden einzigen Bühnenstücke von Ravel – auf dem Programm im Deutzer Staatenhaus. Roth, der seit seinem Start in Köln ohnehin gerne Komponisten seiner Heimat Frankreich favorisiert, hatte bei der Vorstellung dieser Produktion, die er mit der Regisseurin Béatrice Lachaussèe realisiert, ein „Feuerwerk aus Musik und Theater“ versprochen. Ihm liegt die Premiere dieses Doppelabends mit dem komödiantischen Einakter „Die spanische Stunde“, Uraufführung 1911 in Paris, und der lyrischen Phantasie „Das Kind und der Zauberspuk“, Uraufführung 1924 in Monte Carlo, ganz besonders am Herzen. „Ihr habt die Möglichkeit, vor unserem Publikum auf der Bühne eine Revolution anzuzetteln“, ruft er am Ende der Szene den Kindern von seinem Dirigentenpult dann auch leidenschaftlich zu, um sie abschließend mit einem begeisterten „Bravo“ für allen Einsatz bei den Proben auf den noch ausstehenden Ernstfall einzustimmen.
Die Premiere zu „L’heure espagnole“ und L’enfant et les sortilèges findet am 25. September statt. Musikalische Leitung: Francois-Xavier Roth. Inszenierung: Béatrice Lachaussèe. Bühne & Kostüme: Nele Ellegiers. Orchester: Gürzenich-Orchester Köln. In den Hauptrollen: Das Kind – Marie Lenormand / Regina Richter (30. September). Die Mutter, die chinesische Tasse, die Libelle – Judith Thielsen. Die Bergère, die Eule – María Isabel Segarra. Das Feuer, die Prinzessin, die Nachtigall – Dongmin Lee. Ein Schäfer, die Katze, das Eichhörnchen – Sara Jo Benoot. Eine Schäferin, die Fledermaus – Maria Kublashvili. Der Sessel, ein Baum – Tomislav Lavoie. Die Standuhr, der Kater – Thomas Dolié. Die Wedgwood-Teekanne, das alte Männchen, der Laubfrosch – John Heuzenroeder. Es singen außerdem der Chor der Oper Köln und die Mädchen und Knaben des Kölner Domchores. Die weiteren Termine sind am: 30. September sowie am 2., 7., 9., 12., 15., 19., 23. und 29. Oktober.
Beatrice Tomasetti