Ganz großes Kino bei "Turandot"
46 Kinder der Kölner Domchöre wirken bei der Puccini-Oper im Deutzer Staatenhaus mit – Bei der Premiere reagiert das Publikum begeistert auf die neue Inszenierung
Sie sind ein fröhlicher Farbtupfer, als sie in ihren roten und pinkfarbenen Seidenkimonos auf dem Drachenschiff hereingefahren werden. Der mehrgliedrige Kopfschmuck aus goldenem Brokat gibt ihnen etwas Festliches, obwohl sie doch Geknechtete sind. Denn wie aufgezogene Püppchen wippen sie mit kalkweißem Gesicht einmal nach rechts, dann wieder nach links zu dem einfachen chinesischen Volkslied, das sie singen, während sie fein herausgeputzt und mit starrem Blick die Vorführung vor den gaffenden Touristen über sich ergehen lassen. Gute Miene zum bösen Spiel machen und dabei leicht grinsen – das hat Regisseurin Lydia Steier ihnen gleich beim ersten szenischen Durchlauf in den Hürther Probenstudios aufgetragen und die Begründung für die von ihr gewollte Mimik gleich mitgeliefert: „Ihr müsst so tun, als ob… und glücklich aussehen. Ihr seid gezwungen zu performen, obwohl Ihr doch eigentlich Angst habt. Hey, kids, und immer nach vorne schauen! Dann korrigiert sie noch einmal: „Crazy eyes…!“ Später, nach mehreren Durchgängen, in die sie nach und nach auch die Sänger des Kölner Opernchores und die Solisten einbezieht, lobt sie dann die jungen Sängerinnen und Sänger: „Hey, Domchor, toll! Das macht Ihr ja schon richtig gut!“
15 Abendtermine dieser Art – am Ende wird ab den Hauptproben die Klavierbegleitung durch das Orchester ersetzt und die karge Studioatmosphäre gegen den Originalschauplatz im Staatenhaus eingetauscht – haben die 46 Mädchen und Knaben hinter sich, wenn die Premiere ansteht und sich die Spannung bis zur letzten Minute noch einmal deutlich steigert. Immer wieder wurde bis dahin an Details gefeilt. Auch die Chorleiter Eberhard Metternich und Oliver Sperling wiederholen mit den Kindern die Hinweise der Dramaturgie akribisch genau und erläutern zum besseren Verständnis den Kontext: „Hier geht es um die chinesische Kultur und ganz andere Harmonien, die der Komponist sehr eindrucksvoll in seine Musik eingearbeitet hat – und dann noch die italienische Aussprache. Das erfordert einfach fleißiges Üben“, sagt Metternich über die wochenlange Einstudierung der vier kurzen Auftritte mit den Kindern, die zweimal nur aus dem „Off“ zu vernehmen sind. „Das Ganze spielt in einem totalitären Unrechtsstaat“, erklärt Sperling dem Auswahlchor in einer der Pausen. „Ihr singt, obwohl Euch gar nicht danach zumute ist. Man muss als Zuschauer spüren, dass Ihr gedrillt seid, aber innerlich eine Leere empfindet und das Spektakel der Zuschaustellung nur mitmacht, weil man Euch dazu zwingt.“
Bis zu 120 Akteure sind bei „Turandot“ zwischenzeitlich auf der Bühne. Die meisten von ihnen gehören den Chören an. Fast genauso viele Musiker stellt noch einmal das Gürzenich-Orchester, das bei dieser Oper in extra großer Formation spielt und aus akustischen Gründen diesmal hinter der Kulisse postiert ist. Das kommt den Solisten zugute, rückt das Geschehen auch näher an die vorderen Publikumsränge und ermöglicht ein gefühltes „Mittendrin“. Trotzdem ist das damit fast unsichtbare Orchester auch an dieser Stelle als gewaltiger Klangkörper wahrnehmbar, der zusammen mit dem opulenten Bühnenbild von weitaus größerem Ausmaß als sonst die Hintergrundfolie für ein hochdramatisches Musiktheater liefert, das in der Version der 1978 in Connecticut geborenen Regisseurin ganz großes Kino zeigt: starke Massenszenen, unschlagbar tolle Kostüme mit charakteristischem Lokalkolorit und vor allem herausragende Stimmen; Superlative, die mit der Gefühlsskala der Protagonisten wetteifern und immer mal wieder – vor allem wenn sich Turandot und Kalaf in gesanglicher Spitzenlage den Schlagabtausch ihrer leidenschaftlichen Emotionen liefern oder die Sklavin Liú gefoltert wird – für Gänsehautfeeling sorgen.
Steier lässt starke Bilder sprechen: Sie inszeniert die märchenartige Geschichte um die chinesische Prinzessin Turandot im Shanghai des 19. Jahrhundert, der Zeit der britischen Besatzer. Auf vollen Zuschauerrängen erlebt die Bevölkerung, wie ein Freier nach dem anderen hingerichtet wird, der sein Glück bei der schönen, aber herzlosen Turandot versucht. Gewissermaßen „Brot und Spiele“ für ein unterdrücktes, geknebeltes Volk, das das Machtregime auf diese perfide Art den Massen zur Belustigung bietet. Gleichzeitig bedient die Regisseurin mit ihrem Spiel-im-Spiel mehrere Ebenen und fordert dem Publikum außerdem so einiges an Kenntnis von chinesischer Geschichte und ihren Gräueltaten ab. Die flirrend eingeblendeten Kinoaufnahmen aus den Anfängen der bewegten Bilder sind nur ein Beleg für die dunkleren Kapitel im Reich der Mitte.
Aber auch schon die sagenhafte Erzählung an sich ist mehrschichtig und keine – wie sonst bei Puccini üblich – herkömmliche Liebesgeschichte mit tragischem Ausgang. Die letzte und unvollendet gebliebene Oper von Puccini – er stirbt darüber 1924 – erzählt davon, dass jeder, der um Turandots Hand anhält, drei Rätsel aufbekommt. Da deren Lösung bislang niemandem gelungen ist und schon 13 Bewerber auch nur den Versuch, dem Geheimnis auf die Spur zu kommen, mit ihrem Leben bezahlen mussten, konnte sich Turandot lange Zeit die Männer mit einem brutalen Schwur vom Leibe halten. Sie gilt als außergewöhnlich schön, aber vor allem auch als kaltblütig und unnahbar. Es ist schließlich der Tatarenprinz Kalaf, der unerwartet mit der Lösung aller drei Rätsel das Recht erwirbt, die Prinzessin heiraten zu dürfen.
Doch nun will diese nichts mehr von der Abmachung wissen und wehrt alles Werben ab. Wieder setzt der Prinz sein Leben ein und gibt ihr nun seinerseits ein Rätsel auf. Wenn sie bis zum Morgengrauen seinen Namen in Erfahrung bringt, will er auf sie verzichten und sterben. Der kaiserliche Erlass „Niemand schlafe…“ in dieser Nacht in Peking – eine der wohl bekanntesten und schönsten Tenor-Arien der Musikgeschichte – soll alle Bewohner dazu bringen, den Namen des todesmutigen Fremden herauszufinden. Auch wenn Kalaf von Turandots Erscheinung gebannt ist und sich das Ringen der beiden miteinander zu einem Machtkampf hochstilisiert, wünscht sich dieser letztlich doch nur ihre wahre Zuneigung. Sein Angebot, noch einmal alles zu riskieren und das Leben aufs Spiel zu setzen, dient ihm einzig als Liebesbeweis. Insgeheim hofft er, durch diese Geste ihr Herz zu gewinnen.
Puccini selbst konnte Turandot nicht mehr vollenden. Das Liebesduett der „Principessa“ und Kalafs sowie das Ende wurden von Franco Alfano im Rückgriff auf vorhandene Skizzen Puccins fertig gestellt, obwohl er selbst bis zum Schluss mit dem Ausgang der literarischen Vorlage gehadert haben soll. Und so bleibt das Schicksal der scheinbar Seelenverwandten tatsächlich offen. Auch was Lydia Steier daraus macht, ist nur vordergründig ein Happy end. Ein Rest von Phantasie bleibt dem Zuschauer überlassen, auch wenn das Volk schließlich beim grande Finale den Mann an der Seite von Turandot frenetisch feiert. Aber ist es Kalaf wirklich gelungen, nicht nur das Eis um die Männer verachtende Herrscherin zu brechen, sondern auch ihren starken Willen und sie zu seiner glühenden Geliebten zu machen?
Das Premierenpublikum am gestrigen Sonntag jedenfalls reagierte mit anhaltenden Bravo-Rufen auf das kreative Gesamtpaket, das Steier mit ihrem Debüt an der Kölner Oper in Form dieser Neuproduktion vorstellte. Und auch Opernintendantin Dr. Birgit Meyer lobte bei der anschließenden Feier sichtlich begeistert die Gesamtleistung des ganzen Teams. Steier dankte sie für die „große Show“, die sie mit ihrer Inszenierung auf die Bühne gebracht hatte. „Es hat heute wirklich alles gestimmt“, sagte sie. „Ein Abend wie dieser zeigt, was Oper alles kann.“
Die weiteren Aufführungen von „Turandot“ finden am 6., 8., 15., 17., 21., 23., 27. und 29. April sowie am 4., 7., 12. und 14. Mai statt. Zu den Ausführenden gehören: Turandot - Catherine Foster / Mlada Khudoley, Calaf - Martin Muehle / Riccardo Massi, Altoum - Alexander Fedin, Timur - Mika Kares / Lucas Singer, Liù - Guanqun Yu / Ivana Rusko, Ping - Wolfgang Stefan Schwaiger, Pang - John Heuzenroeder / Ralf Rachbauer, Pong - Martin Koch / Young Woo Kim, Ein Mandarin - Michael Mrosek, Chor und Extrachor der Oper Köln unter der Leitung von Andrew Ollivant, Mädchen und Knaben des Kölner Domchores (Einstudierung Eberhard Metternich und Oliver Sperling), Gürzenich-Orchester Köln, Musikalische Leitung - Claude Schnitzler, Inszenierung - Lydia Steier, Regieassistenz - Eike Ecker, Kostüme - Ursula Kudrna, Dramaturgie - Georg Kehren.
Beatrice Tomasetti