Experimentierfreude pur
Auch für die kommende Spielzeit verspricht die Kooperation zwischen Gürzenich-Orchester und Dommusik wieder zwei musikalische Highlights
In der Kategorie „sehr experimentell“ verbucht François-Xavier Roth seine Projekte, die er in der Konzert-Saison 2017/18 gemeinsam mit der Kölner Dommusik plant. Bei seiner ersten Pressekonferenz vor zwei Jahren hatte der damals gerade designierte Gürzenich-Kapellmeister bereits angekündigt, neben dem klassischen Konzertsaal immer auch den geistlichen Aufführungsort Kölner Dom und seine akustischen Besonderheiten als eine von zusätzlich denkbaren Alternativen im Blick behalten bzw. ausbauen zu wollen. Konkret für den 25. Mai des nächsten Jahres kündigte er daher jetzt bei der Vorstellung des neuen Spielplans in der Kölner Philharmonie auch wieder bezüglich des traditionellen „Großen Domkonzertes“ eine erwartungsgemäß eigenwillige Programmgestaltung an, die den außergewöhnlichen Klangraum der Kathedrale bei diesem Vorhaben zu einem wichtigen Partner macht.
Einmal mehr setzt Roth auf das gänzlich Neue und gemeinhin Unvertraute. In Absprache mit Domkapellmeister Eberhard Metternich steht nämlich – nach 2015 – bei der zweiten Auflage des Domkonzertes mit dem Kölner Generalmusikdirektor am Dirigentenpult die Paarung zweier zeitgenössischer Kompositionen im Fokus: zunächst die etwa einstündige Oper „Neither“ von Morton Feldman für Sopran und Orchester auf einer Textgrundlage von nur 87 Worten Samuel Becketts aus dem Jahr 1977 sowie eine Auftragskomposition der Kölner Dommusik an die 31-jährige Schwedin Lisa Streich, die dieses Stück für vier Chöre mit je einem Instrument, so die einzigen Vorgaben Metternichs, allerdings erst noch schreiben muss. Trotzdem gab es schon jetzt für diese exotische Idee, das Feldman-Stück um eine Streich-Komposition zu ergänzen, Vorschusslorbeeren von Roth: „Unglaubliche Musik, die gut an diesem Ort funktionieren wird, auch oder gerade weil es eine sehr spezielle und stille Musik ist.“ Roth ist für bewusst kalkulierte Überraschungseffekte, mit denen er sein Publikum konfrontiert, aber immer auch charmant umwirbt, bekannt. Und so sekundierte auch Patrick Hahn, der künstlerische Programmplaner des Gürzenich-Orchesters beim Termin mit den Journalisten: „Ganz sicher ist das ein kleiner Höhepunkt in dieser Spielzeit.“ „Ich wollte mit Metternich mal etwas ausprobieren“, begründet Roth diese für Domkonzerte recht unkonventionelle Wahl und trifft bei dem Musikerkollegen angesichts dieser bemerkenswerten Kombination auf eine ebensolche Experimentierbereitschaft und -freude. „Eine solche Zusammenarbeit inspiriert zu ganz neuen Ideen“, kommentiert Metternich begeistert die musikalische Herausforderung.
Mit Lisa Streich traf der Leiter der Kölner Dommusik erstmalig beim Acht-Brücken-Festival 2013 zusammen. Damals hatte die Kölner Hochschul-Absolventin und junge Komponistin für ihr Werk „Agnel“, das Metternich mit dem Vokalensemble Kölner Dom erst kürzlich auf CD eingespielt hat, beispielsweise Geräusche des leeren Doms aufgenommen und den Chor vom Triforium des Langhauses aus singen lassen. „Lisa Streich will den Dom räumlich erfahrbar machen. Dabei versucht sie, die Atmosphäre der Kirche in Klänge zu überführen, in die man sich richtig versenken kann“, erklärt Metternich die ungewohnte Hörerfahrung. „Ein ungemein spannender Ansatz, der gerade den Reiz ihrer Musik, nämlich mit Kontrasten zu arbeiten, ausmacht.“ So gehören Stille und Einkehr zu den Wesensmerkmalen der Musik von Lisa Streich. Ihre reduzierten Klänge ergänzt sie gern mit alltäglich Geräuschhaftem, so dass es in vielen Stücken raschelt, rasselt und knirscht.
Bei Feldman dehnt ein einsamer Sopran Becketts spärliche und doch bedeutungsschwangere Worte in langen, sich wiederholenden Tönen und in höchsten Lagen zwischen minimalen Intervallen pendelnd. Während die Musik dieses Einakters nicht nur das Mysterium der menschlichen Existenz, sondern auch Glaubensfragen, die über die Wirklichkeit hinausgehen, umkreise – so ist ein Deutungsansatz in dem 150 Seiten starken Programmheft nachzulesen – wird die Musik von Lisa Streich noch einmal ganz anders zu entdecken sein. Aber auch sie schafft mit ihrem Klangteppich aus Stimmen und Instrumentaltönen, die miteinander verschmelzen, etwas ähnlich betörend Schwebendes.
Die zweite große Kooperation – zeitlich aber ein gutes halbes Jahr vorher – findet anlässlich des diesjährigen Reformationsfestes statt. Unter der Überschrift „500 Jahre Reformation“ widmet das Gürzenich-Orchester unter der Leitung von Hartmut Haenchen drei Tage hintereinander – am 29., am 30. und am Jubiläumstag selbst, dem 31. Oktober – seine Auftritte ganz diesem Gedenken. Dann stehen die „Feuerwerksmusik“ von Händel, die „Sinfonie in einem Satz“ des Kölner Komponisten und Musikhochschuldozenten Bernd Alois Zimmermann von 1953 und die Sinfonie Nr. 2 B-Dur „Lobgesang“ von Mendelssohn-Bartholdy aus dem Jahr 1840, an der sechs Kölner Chöre beteiligt sein werden, auf dem Programm. Für die Kölner Dommusik nehmen allein 40 Sängerinnen und Sänger der Domkantorei Köln und des Vokalensembles Kölner Dom an diesem konfessionsübergreifenden Festkonzert teil, zu dem sich ein entsprechend großer Chor von fast 300 Stimmen formieren wird.
Mendelssohn hatte damals aus Anlass der Vierhundertjahrfeier zur Erfindung der Buchdruckerkunst durch Johannes Gutenberg vom Rat der Stadt Leipzig den Auftrag zu einer sinfonischen Komposition mit Chor angenommen und legte sie nach längerem Ringen um die geeignete Form schließlich als Sinfoniekantate für Soli, Chor und Orchester an. Gleichzeitig boten ihm die klaren Vorgaben die Gelegenheit, ein typisches ästhetisches Problem der Romantik zu lösen, nämlich eine glaubhafte Form für das Zusammenwirken von Poesie und Musik zu finden. Das Ergebnis nannte er „Lobgesang“, der dann schließlich in der Thomaskirche im Rahmen eines großen Festkonzertes uraufgeführt und vom Publikum begeistert aufgenommen wurde. Später erweiterte Mendelssohn diese erfolgreiche Komposition um zusätzliche Sätze, so dass das Werk heute zu Recht als Sinfonie gilt und sich besonders für herausragende Feiertage empfiehlt.
Das „Große Domkonzert“ mit Laura Aikin, Sopran, dem Vokalensemble Kölner Dom (Leitung Eberhard Metternich) und dem Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung von François-Xavier Roth am 25. Mai 2018 beginnt um 20 Uhr im Kölner Dom. Die zwei modernen Kompositionen von Feldman und Streich wird Domkapellmeister Metternich außerdem um eine Motette von Alessandro Striggio aus dem 17. Jahrhundert ergänzen. Der Eintritt ist frei.
Zu den Mitwirkenden der drei Philharmonie-Konzerte am 29. (11 Uhr), 30. und 31. Oktober 2017 (jeweils 20 Uhr) unter der Überschrift „500 Jahre Reformation“ gehören die Solisten Anna Lucia Richter, Sopran, Esther Dierkes, Sopran, Patrick Grahl, Tenor, sowie der Chor des Bach-Vereins Köln (Einstudierung Thomas Neuhoff), der Gürzenich-Chor Köln (Einstudierung Christian Jeub), die Kartäuserkantorei Köln (Einstudierung Paul Krämer), der Oratorienchor Köln (Einstudierung Andreas Meisner), die Domkantorei Köln (Einstudierung Winfried Krane) und das Vokalensemble Kölner Dom (Einstudierung Eberhard Metternich). Das Gürzenich-Orchester Köln spielt unter der Leitung von Hartmut Haenchen.
Beatrice Tomasetti