„Wir denken und gestalten vom Kind her“
Seit 30 Jahren ist Professor Eberhard Metternich Domkapellmeister und Leiter der Kölner Dommusik. In dieser Zeit hat der Kirchenmusiker, der selbst in den 70er Jahren bei den Limburger Domsingknaben sang, eine Menge bewegt und bedeutende Weichen für die Liturgie am Dom gestellt. Heute verfügt die Dommusik über vier Kathedralchöre, die in Deutschland, aber auch weltweit einen exzellenten Ruf genießen. Die musikalische Ausbildung, die zunächst in der Domsingschule und in der Musikschule des Kölner Domchores grundgelegt wird, ist fundiert und hat schon so manche Solo-Karriere begründet.
Herr Metternich, ein 30-jähriges Dienstjubiläum ist ja üblicherweise kein Jubiläum, das gefeiert wird. Und doch stehen diese drei Jahrzehnte für eine kontinuierliche musikalische Arbeit am Kölner Dom, die sich sehen lassen kann. Hinzu kommt, dass in unserer schnelllebigen Zeit 30 Dienstjahre bei einer und derselben Institution doch eher Seltenheitswert haben. Was bewegt Sie, wenn Sie auf diese Zeit zurückschauen?
Metternich: Ich bin sehr froh über die Entwicklung, die die Musik am Kölner Dom genommen hat. Als ich 1987 nach Köln kam, war eine Art Aufbruchstimmung spürbar. Mein Vorgänger, Pater Ralph March, war gerade mit Erreichen der Altersgrenze aus dem Dienst ausgeschieden. Und ich fand um den damaligen Domorganisten Clemens Ganz ein Team vor, das gut miteinander harmonierte und offen für neue Ideen war. Der Neubau des Kardinal-Höffner-Hauses war bereits auf den Weg gebracht. Und der Auftrag des Domkapitels an mich bestand vor allem darin, die Tradition des Kölner Domchores fortzusetzen, für dessen Nachwuchs zu sorgen und zusätzlich einen Erwachsenenchor ins Leben zu rufen. Nach einem Jahr an der Kölner Domsingschule allerdings stand für mich fest, dass zunächst die Priorität in der Gründung eines Mädchenchores lag. Das war geradezu naheliegend. Warum sollten die Mädchen, die dieselbe musikalische Ausbildung an unserer Schule durchliefen und für die es meiner Meinung nach auch ein den Knaben vergleichbares pastorales Angebot geben musste, benachteiligt sein? Schließlich gab es hier Potenzial. So konzentrierte sich also mein Engagement neben der Leitung des Domchores auf die Arbeit mit den Mädchen, was sich rückblickend als richtige Entscheidung erwiesen hat. Die Sängerinnen, die 1996 dann mein Kollege Oliver Sperling übernahm, belohnten die Chance, die sich ihnen in diesem neuen Ensemble bot, von Anfang an mit herausragenden Leistungen und Erfolgen, so dass es heute als einer der weltweit renommiertesten Mädchenchöre überhaupt gilt.
Aber es ging in dieser Zeit ja nicht allein nur um die musikalische Seite Ihrer Arbeit…
Metternich: Nein, ich wurde auch mit den Bauplänen für die neu entstehende Domsingschule bzw. das Kardinal-Höffner-Haus konfrontiert, was auch administratives Geschick erforderte. Ein halbes Jahr später war bereits die Grundsteinlegung. In dieser Zeit wurde gerade auch der Chorsaal unter dem Dach des Domes renoviert, so dass wir mit den Domchor-Proben in die Ursulinenschule ausweichen mussten. Dann kam noch die Neukonzeption der Musikschule des Kölner Domchores mit einem breitgefächerten Angebot an Instrumentalunterricht dazu. Mir war wichtig, den Kindern mehr als nur Blockflöten- und Klavierunterricht anbieten zu können. Das führte dazu, dass für die Lehrkräfte, die ein großes instrumentales Spektrum – von der Klarinette über Orgelunterricht bis hin zum Kontrabass – ermöglichen sollten, in Absprache mit dem Schulrat feste Anstellungsverträge ausgehandelt wurden. Mit dem Einzug in das Kardinal-Höffner-Haus sollte darüber hinaus auch eine Tagesbetreuung für die Knaben und Mädchen der weiterführenden Schulen zur Verfügung stehen. Alles das aus der Taufe zu heben war zeitintensiv und beanspruchte zudem Organisationstalent.
Ahnten Sie damals, dass alle diese Entscheidungen auf eine Lebensstellung hinauslaufen würden?
Metternich: Ganz sicher nicht. Ich habe in Köln eher für die nächsten zehn oder 15 Jahre geplant. Dann wollte ich weitersehen. Außerdem bot sich im Jahr 2000 die Möglichkeit, einen anderen Weg einzuschlagen. Ich bekam einen Ruf als Professor für Chorleitung an die damalige Hochschule der Künste in Berlin und sollte zudem die Leitung des Staats- und Domchores Berlin übernehmen. Der musikalischen Arbeit dort wären meine Kölner Erfahrungen zugute gekommen. Es gab vergleichbare Strukturen. Doch der zusätzliche Reiz hätte darin bestanden, sich in der Kulturlandschaft Berlins zu profilieren. Ich war fest entschlossen, diese Chance zu nutzen. Doch dann erwiesen sich die äußeren Rahmenbedingungen doch nicht als in meinen Augen tragfähig und ich entschied mich, in Köln und am Kölner Dom zu bleiben. Im Nachhinein habe ich meinen Entschluss, am Rhein zu bleiben, nie bereut. Wenn es um Kathedralmusik geht, schauen mittlerweile alle nach Köln. Es wird bundesweit wahrgenommen, was wir am Dom und auch darüber hinaus musikalisch machen. Das verstehe ich als eine große Bestätigung und auch Verpflichtung. Es wäre allerdings mein großer Wunsch, sich ein ganzes Stück der vielfältigen Verwaltungsaufgaben entledigen zu können, die in der Dommusik anfallen und die nicht unerhebliche Zeitressourcen aufbrauchen. Es würde dann mehr Zeit für Gespräche mit Chormitgliedern und Eltern bleiben, die häufig zwischen Tür und Angel geführt werden müssen.
Als Sie 1987 in Köln anfingen, waren Sie 28 Jahre alt. Hinter Ihnen lag ein Studium der Schulmusik mit den Schwerpunkten Geige und Gesang. Zwei Jahre hatten Sie als stellvertretender Domkapellmeister in Mainz gearbeitet. Ein Glücksfall, wie Sie heute sagen, der Sie für die Kölner Ausschreibung qualifizierte. Der Kölner Domchor, den Sie übernehmen sollten, zählte gerade mal 35 Knaben plus Herrenstimmen. Inzwischen hat sich die Mitgliederzahl aller vier Chöre, die Sie nach und nach am Dom etabliert haben, verzehnfacht. Worin sahen Sie damals Ihre primäre Aufgabe?
Metternich: Es ging vor allem darum, den Knabenchor zu stärken und auszubauen. Die Rekrutierung von jungen Stimmen, denen man die Freude am Singen ansieht, und den Nachwuchs im Chor zu sichern, habe ich als eigentlichen Auftrag für mich reklamiert. Damals sangen wir jedes Hochamt, hatten aber nur zwei Proben in der Woche. Ein ungutes Verhältnis. Heute singen wir mit dem Knabenchor zwei Hochämter im Monat und proben dreimal die Woche. Bei vier Chören verteilt sich der liturgische Dienst damit auf mehrere Schultern. Außerdem ist es auch mal schön, in einer anderen Kirche zu singen, in die wir eingeladen werden. Die Knaben mögen das: einmal unmittelbareren Kontakt zum Publikum zu haben und einen intimeren Raum zu füllen, als es im Dom angesichts der schwierigen Akustik der Fall ist. Mit 30 bis 40 Knaben – mehr hatte ich ja zunächst nicht – diesen gewaltigen Kirchenraum zu füllen, war damals schon ein Problem. Jahrelang haben wir dann experimentiert – auch mit behelfsmäßigen Tribünen –, wo der beste Chorstandort dauerhaft sein könnte, bis wir uns 1998 anlässlich des Domjubiläums für ein Podest im rechten Seitenschiff entschieden haben.
Eine zweite wichtige Aufgabe bestand in der Etablierung einer Konzertreihe. Heute – nach mehr als 26 Jahren – ist die „Geistliche Musik am Dreikönigenschrein“ mit ihren jährlich zehn bis zwölf Konzerten, von denen wir anfangs zwei Drittel selbst bestritten haben, aus dem Kölner Kulturleben nicht mehr wegzudenken. Mittlerweile ist sie sogar Garant für einen hohen Qualitätsstandard, den auch die vielen Gastchöre erfüllen, die wir im Laufe eines Jahres zu dieser Reihe einladen oder die sich um einen Auftritt bei uns bewerben. Gleichzeitig dient sie uns als Forum der Begegnung und des Austauschs mit internationalen und nationalen Ensembles, von denen der Dom und die Stadt, vor allem aber die vielen Musikliebhaber der Region sehr profitieren. Aber auch das war ein langer Kampf und bedurfte intensiver Überzeugungsarbeit, bis das Domkapitel regelmäßigen Aufführungen – zumal mit dem Altar und Dreikönigenschrein im Rücken – zustimmte. Das ging so weit, dass in den ersten Jahren das Chorgestühl für die Besucher der Konzerte gesperrt blieb. Doch bist heute ist diese Mischung aus pastoralem Auftrag und höchstem professionellen Können bei freiem Eintritt einmalig.
Erst vor wenigen Wochen sind Sie von einer Südamerika-Reise mit 60 Sängern des Domchores zurückgekehrt. Auch andere Fernziele, wie Kanada, USA oder Israel, standen bereits auf Ihrer Agenda. Der Mädchenchor am Kölner Dom hat ebenfalls schon weite Auslandsreisen nach Argentinien und zuletzt nach China unternommen. Was bedeuten diese Erlebnisse für die Kölner Dommusik?
Metternich: Die Reisen sorgen bei allen Sängern immer für einen enormen Motivationsschub. Auch gerade erleben wir nach der Südamerika-Fahrt wieder ein Zwischenhoch. Die Sänger zehren – wie auch von der Teilnahme an Opern- oder Philharmonieprojekten – eine ganze Weile von solchen Erfahrungen. Gleichzeitig soll eine Fernreise immer auch ein „Dankeschön“ für allen geleisteten Einsatz sein. Gruppenerlebnisse dieser Art weiten den Blick: musikalisch, kulturell und im Miteinander. Das wiederum kommt am Ende dem Dienst im Dom zugute. Denn nachweislich wächst mit solchen Aktivitäten die Qualität und sie fördern das Durchhaltevermögen, das ja auch schon mal auf dem Prüfstand steht. Ausschließlich im Dom zu singen würde früher oder später dazu führen, in einer Routine zu erstarren. So aber bedeutet die Unterbrechung des immer Gleichen noch einmal frischen Wind, den sich alle dankbar um die Nase wehen lassen. Südamerika war die bislang längste und weiteste Reise für den Domchor. Natürlich können wir uns das finanziell nur alle fünf Jahre leisten. Und ohne unseren Förderverein und andere Sponsoren, die einen wichtigen Beitrag zum Zustandekommen dieser Unternehmung geleistet haben, wäre so etwas auch gar nicht denkbar. Andererseits hat auch diese Reise wieder dafür gesorgt, dass wir als Botschafter des Kölner Domes und der Stadt wahrgenommen wurden. Die Kinder haben auf der anderen Seite der Welthalbkugel Unvergessliches erlebt. Und damit meine ich auch, dass sie beim Pueri Cantores-Treffen in Rio beispielsweise nicht nur die Schokoladenseite der Stadt kennengelernt haben, sondern auch mit dem Elend dieser Millionenmetropole konfrontiert wurden. Bei all dem war das Singen ein wichtiger Begleiter, mit dem sie unterwegs – manchmal auch spontan in der Straßenbahn – ganz viel Freude weitergegeben haben. Das ist ja überhaupt die Quelle allen Antriebs: aus der Musik selbst Kraft und Freude zu schöpfen, um diese dann weiterzuverschenken. Letztes Jahr waren wir in Lecco/Oberitalien. Ganz frisch auf meinem Schreibtisch liegt nun eine Einladung aus der Ukraine. Mit dem St. Michael’s Choir in Toronto verbindet uns eine langjährige Chorpartnerschaft. Es geht also immer weiter und wird noch andere Highlights für die nachfolgenden Chorgenerationen geben.
Und dennoch sind Konzerte in Brasilien oder Argentinien die Ausnahme. Wer bei einer solchen Reise mit dabei ist, hat vorher hart geübt und wenigstens dreimal in der Woche an den Chorproben teilgenommen – zuzüglich der Sonderproben. Da gibt es für den Einzelnen sicher auch schon mal Leerlaufphasen oder einen Motivationsknick. Wie gehen die Kinder und Jugendlichen mit dieser Herausforderung – meistens ja nach einem langen Schultag – um?
Metternich: Krisen sind ganz normal und gehören dazu. Als Chorleiter muss ich damit leben, dass es auch immer wieder Kinder gibt, die von ihren Eltern aus den unterschiedlichsten Gründen – oft wegen Nachlassens schulischer Leistungen – abgemeldet werden. Um jeden einzelnen tut es mir leid, das ist gar keine Frage. Und wenn es eng wird, lasse ich auch mal Fünfe gerade sein und erspare dem einen oder anderen Wackelkandidaten die dritte Probe in der Woche. Ich mache allerdings auch die Erfahrung, dass in solchen Durchhänger-Phasen besondere Ereignisse, wie auch die jetzt wieder anstehende Domwallfahrt, über ein solches Tal hinweghelfen und die Kinder sich auch wieder neu anregen lassen. Hier ist sicherlich pädagogische Empathie gefragt. Nicht alle Kinder kann man halten, aber aufgeben tue ich trotzdem nicht so schnell. Hinzu kommt, dass sich die Kinder zu zusätzlichen Projekten, wie beispielsweise der Mitwirkung in der Oper, ohnehin freiwillig melden und es jedes Mal mehr Interessenten als zu vergebende Rollen gibt.
Die bewährte Zusammenarbeit mit den vielen Schulen, aus denen unsere Sänger kommen, hilft uns ebenfalls, beispielsweise den Einschnitt durch G8 abzumildern, was ja übrigens allen freien Trägern von Jugendbildung zu schaffen macht. Durch die Hausaufgabenbetreuung und eine gestaltete Freizeit mit sportlichen und spielerischen Elementen kommen wir unserer Pflicht nach, einen abwechslungsreichen Ausgleich zum Chorengagement zu schaffen. Denn Zeit zum Spielen und zur Bewegung muss sein. Das fordern die Kinder schon ganz von alleine ein. Pädagogisch machen wir uns im Team unaufhörlich Gedanken, worin wir noch besser werden können. Dabei versuchen wir immer, vom Kind her zu denken und zu gestalten. Auf der anderen Seite bewundere ich oft, wie die Knaben an eine Bach-Motette herangehen. Wie viel Spaß die dabei entwickeln! Das sind dann schon ganz besondere Momente, wenn man erlebt, dass selbst nach 300 Jahren ein Bach nicht „out“ ist, sondern in Kindern so viel Begeisterung wecken kann. Wie sie allen Ehrgeiz daran setzen, die Fugen einer komplizierten Motette hinzubekommen. Und wie glücklich sie dann sind, wenn – nach wochenlanger, zum Teil mühsamer Probenarbeit – alles toll geklappt hat – da können einem auch schon mal die Tränen kommen.
Wie sieht es mit dem Nachwuchs aus? Die Knaben kommen heute durchschnittlich ein Jahr früher in den Stimmbruch und müssen danach noch einmal neu den Anschluss an den Chor finden. Gibt es immer noch genügend Kinder und Jugendliche, die Singen attraktiv genug finden, um dieses Hobby aus Leidenschaft zu betreiben?
Metternich: Über die „Musische Vorschule“ kommen bereits Fünfjährige zum ersten Mal in Kontakt mit der Dommusik. Kinder, die Spaß am Singen haben, gibt es eigentlich genug. Gerade die Altersgruppe zwischen fünf und zehn Jahren ist mit Leib und Seele dabei. Das Problem liegt vielmehr darin, dass nicht mehr genügend Eltern dieses Hobby, das religiös motiviert ist, unterstützen und selbst auch oft nicht mehr mit konventioneller Musik in Berührung kommen. Dabei ist eine solche musikalische Prägung etwas fürs Leben. Meine Überzeugung ist, dass einen der Glaube durchs Leben tragen kann. Aber viele machen eben die Erfahrung: Es geht auch ohne. Diesen Menschen können wir mit unserem zwischenmenschlichen Verhalten den Mehrwert einer christlich geprägten Gemeinschaft klar machen und sie immer wieder einladen, so dass sie sich der Attraktivität dieses Angebots, Gott einen Platz in ihrer Familie zu geben, nicht verschließen. Und letztlich geht es natürlich um die beiden Hauptkriterien, wenn Eltern ihr Kind in der Domsingschule anmelden: Hat das Kind Freude am Singen? Und ist seine Stimme geeignet? Auch wenn manche Kinder einen zweiten und dritten Anlauf brauchen, sind sie bei uns richtig. Dabei spielt eine große Rolle, mit den Eltern im Gespräch zu bleiben. In einem guten Chor zu singen erleben viele Kinder nämlich als etwas Einmaliges. In einer Gemeinschaft wie dieser arbeitet man nicht gegeneinander, sondern miteinander und schafft etwas Gemeinsames. Gemeinschaft fördern – kulturell und religiös – darin sehe ich meinen Kernauftrag. Musik verbindet nun mal über alle Grenzen hinweg.
In der Stadt Köln gelten die vier Kathedral-Chöre mittlerweile als eine kulturelle Größe mit enormer Außenwirkung. Sie treten neben ihren Verpflichtungen in der Liturgie auch regelmäßig bei Kooperationen mit der Philharmonie, der Oper oder anderen Konzertveranstaltern auf. Das ist sicher ein großer Anreiz für jedes Ensemble-Mitglied, bedeutet aber eben auch zusätzliches Engagement…
Metternich: Es erweitert den Erfahrungshorizont. Und die Kinder lieben es, in Rollen zu schlüpfen oder beispielsweise den Opernbetrieb auch einmal backstage in Kostüm und Maske zu erleben. Gleichzeitig stehen sie mit den ganz Großen auf einer Bühne. Das ist für sie ein großer Ansporn. Denn sie merken, dass sie auf einem sehr professionellen Niveau gefragt sind. Dabei wachsen sie oft über sich hinaus. Nach einem solchen Projekt haben sie ein ganz anderes Standing im Chor. Plötzlich werden sie sich bewusst, dass die eigene Stimme trägt. Das schafft ein neues Selbstwertgefühl und ist von daher jedem Kind nur zu wünschen.
Einmal im Jahr vergeben Sie oder Ihr Stellvertreter, Domkantor Oliver Sperling, einen Kompositionsauftrag. Das heißt, zeitgenössische Komponisten liefern für die Dommusik maßgeschneiderte Musik, die es aber meistens auch in sich hat. Wie wichtig sind neue Herausforderungen?
Metternich: Wir wollen uns immer auch der Musik unserer Zeit stellen. Es soll Musik entstehen, die für den Raum des Domes passt, aber auch für die Ensembles, die diese Musik einstudieren. Mit der jungen schwedischen Komponistin Lisa Streich wird es im kommenden Mai den Versuch geben, den Dom akustisch-räumlich erfahrbar machen. Dabei versucht sie, die Atmosphäre der Kirche in Klänge zu überführen, in die man sich richtig versenken kann. Das sind eine ungewohnte Hörerfahrung und ein ungemein spannender Ansatz, der gerade den Reiz ihrer Musik, nämlich mit Kontrasten zu arbeiten, ausmacht. Ihre reduzierten Klänge ergänzt sie gern mit alltäglich Geräuschhaftem, so dass es in vielen Stücken raschelt, rasselt und knirscht. Wenn jemand eine Verbindung zu diesem besonderen Kirchenraum aufbauen kann, kann das Ergebnis spektakulär sein. Der Weg zum Gelingen eines solchen Kompositionsauftrags ist oft steinig, aber schon so manches Mal waren alle Mitwirkenden am Ende total begeistert. Das bedeutet in der Regel aufwendige Probenarbeit, lohnt sich aber unbedingt. Gerade Kinder haben oft ein untrügliches Gefühl für die Schönheit von Musik: ob das eine Komposition des gebürtigen Libanesen Naji Hakim, des Argentiniers Martin Palmeri oder die Spatzenmesse von Mozart ist.
Auf was sind Sie persönlich besonders stolz?
Metternich: Die große Vielfalt unserer Chöre am Dom mit ihren Kooperationen – vor allem mit dem Gürzenich-Orchester Köln, der Oper Köln, dem Kölner Kammerorchester oder dem WDR-Sinfonie-Orchester – und ihren regen Reisetätigkeiten und -möglichkeiten macht mich ganz besonders froh. Denn alle Sänger – die Kinder wie auch die Erwachsenen – tragen erheblich dazu bei, dass die Liturgie im Dom lebendig bleibt. Auch wer irgendwann einmal aus einem der Ensembles ausscheidet, bleibt dem Dom und der großen Chorfamilie meistens verbunden. Dieses Beziehungsgeflecht, das beiden Seiten über die aktive Chorzeit hinaus wichtig bleibt, macht mich in der Tat auch ein wenig stolz. Denn es bedeutet, dass da etwas Wesentliches bleibt. Mein Traum war immer, den Tag für die uns anvertrauten Kinder und Jugendlichen so zu gestalten, dass es erfüllte Stunden für sie sind, in denen alles ineinander greift. Nicht selten erlebe ich, dass eine Chorprobe am Ende eines Tages viele Spannungen löst.
Hätten Sie sich vor 30 Jahren träumen lassen, dass die Kölner Dommusik mit all ihren Erfolgen bei Gesangswettbewerben oder internationalen Chorveranstaltungen derartig renommiert sein würde?
Metternich: Ich hatte damals keine festen Vorstellungen, sondern war allein darauf bedacht, den bestehenden Knabenchor am Leben zu erhalten und ihm Entwicklungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Heute ist es mir ein Herzensanliegen, dass die Musik inner- und außerhalb des Domes den Stellenwert hat, den unsere Kölner Kathedrale selbst als Weltkulturerbe besitzt. Und da sind wir auf dem – wie ich finde – ganz guten Weg, den meine Nachfolger aber auch durchaus korrigieren können.
Was verbindet Sie mit Kardinal Höffner, dessen Namen Ihre Wirkungsstätte trägt?
Metternich: Zu den Pflichten meiner ersten Wochen im Amt als Domkapellmeister in Köln gehörte die Gestaltung des Requiems für Kardinal Höffner. Leider sind wir uns nicht mehr persönlich begegnet. Kurz nach seinem Tod gab es ihm zu Ehren aber eine Ausstellung. Unter anderem lag da sein Terminkalender aufgeschlagen aus mit einem Eintrag für ein geplantes Treffen mit mir. Da er zu diesem Zeitpunkt schon schwer erkrankt war, kam es nicht mehr dazu. Irgendwie schicksalhaft, wenn man bedenkt, dass ich nun seit 30 Jahren in dem nach ihm benannten Chorzentrum, unserem Kardinal-Höffner-Haus, ein- und ausgehe und mir das zur Lebensaufgabe geworden ist. Allerdings versuchen wir, die vielen Lehrerinnen und Lehrer sowie die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im Kardinal-Höffner-Haus, seinen bischöflichen Wahlspruch „Iustitia et Caritas – Gerechtigkeit und Liebe“ zu leben und erfahrbar zu machen. Diesem Motto haben wir uns verpflichtet.
Und Ihr ganz persönliches Highlight im Rückblick auf 30 Jahre?
Metternich: Unvergessen wird mir das bei uns in Köln 2004 ausgetragene Chorfestival „Pueri Cantores“ mit 6000 jungen Sängern aus aller Welt bleiben. Die Erinnerungen an das Fest der Nationen auf dem Roncalli-Platz mit so vielen Gesängen, fröhlich tanzenden Menschen und der Lichtinstallation in einem leer geräumten Dom werden mich mein ganzes Leben begleiten. Einige der zahllosen Gottesdienste bleiben ebenfalls in lebhafter Erinnerung: das Requiem für Kardinal Höffner, die Einführung von Kardinal Meisner als Erzbischof von Köln, das Jubiläumshochamt „750 Jahre Kölner Dom“, der Besuch von Papst Benedikt XVI. beim Weltjugendtag, der Gedenkgottesdienst für die Opfer des Germanwings-Unglücks… Und auch die großen Domkonzerte einmal im Jahr, die eigentlich die meiste Kraft kosten, haben in meinem Herzen einen besonderen Platz. Hier arbeiten Jahr für Jahr so viele auf ein gemeinsames Ziel hin und geben alles. Und am Schluss entsteht immer dieser ganz besondere Augenblick: die Stille vor dem Applaus. Für mich ein Moment von Gotteserfahrung. Über die Jahrhunderte haben in dieser Kirche so viele Menschen tolle geistliche Musik gemacht: zur Ehre Gottes und zu unserer Freude. In dieser Tradition sehe ich mich. Dass mir am Kölner Dom in den letzten 30 Jahren ermöglicht wurde, Kindern und Jugendlichen einen Zugang zu dieser Lebenswirklichkeit zu erschließen – dafür bin ich zutiefst dankbar.
Das Interview führte Beatrice Tomasetti