Opernpremiere für die Nachwuchssänger
84 Mädchen und Jungen sind an „Carmina Burana“ beteiligt – Viele von ihnen treten zum ersten Mal im Staatenhaus auf
Der wuchtig-düstere Chorsatz „O fortuna“ kann als bekannt vorausgesetzt werden. Immer wieder wird die populäre Komposition, der rhythmisch sinnenfrohe Eingangschor der „Carmina Burana“ von Carl Orff, von der Werbeindustrie instrumentalisiert, seit ein Schweizer Schokoladenunternehmen zu Beginn der 1990er Jahre mit dieser musikalischen Untermalung seines Spots geradezu einen Boom auslöste und nicht nur die Liebhaber von Süßem sich plötzlich für den 1985 verstorbenen bayrischen Komponisten interessierten. Angerufen wird mit diesem triumphartigen Gesang, der das insgesamt aus 24 Einzelsätzen bestehende Werk einrahmt, die „Fortuna Imperatrix Mundi“, die Herrscherin der Welt und Schicksalsgöttin, die Glück und Unglück der Menschen bestimmt.
Heute gelten die 1935 entstandenen und zwei Jahre später in Frankfurt uraufgeführten „Carmina Burana“ – der lateinische Titel steht für Beurer Lieder oder Lieder aus Benediktbeuren – als eines der Hauptwerke der klassischen Musik des 20. Jahrhunderts. Zugrunde gelegt sind dieser szenischen Kantate lateinische und mittelhochdeutsche Texte einer Sammlung von im 11. und 12. Jahrhundert entstandenen Lied- und Dramentexten. Ein Fund in der Bibliothek des Klosters brachte sie im Jahr 1803 zutage. Carl Orff soll, wie es heißt, diese Anthologie mit dem Titel „Carmina Burana“ in einem Würzburger Antiquariatskatalog gefunden und sich von ihr mit „magischer Gewalt“ angezogen gefühlt haben. Die umfangreiche Handschrift umfasst moralische und Spottgesänge, Liebeslieder und Trinksprüche sowie zwei geistliche Theaterstücke. Um der Fülle der Texte Herr zu werden, wandte sich Orff an einen der lateinischen Übersetzung kundigen Freund, um eine repräsentative Auswahl zu treffen. Gemeinsam entschieden sie sich dann für 24 Passagen, die sie zu dem zusammenfügten, was schließlich als ein Reigen überschwänglicher Klangbilder von Lust am Leben, Spielfreude, Genuss, Stimmungen und Gefühlen in die Musikgeschichte eingegangen ist. Dafür benutzte Orff von mehreren Gedichten nur Teile oder Einzelstrophen für sein Chorwerk, das trotz oft wechselnder Tempi und komplizierter Rhythmen durch harmonische Schlichtheit besticht und eingängige Melodien aufweist. Vor allem gefiel dem Komponisten die für die Carmina Burana typische Verknüpfung mittelalterlicher und antiker Bildungsinhalte. Aber er schuf daraus etwas völlig Neues: Er folgte weder den oft sehr schwierigen Metren der Lieder noch den Sequenzen der Handschrift, sondern erfand ganz neue, mitunter mitreißende und tänzerische Rhythmen zu den alten Texten.
84 Mädchen und Jungen der Kölner Dommusik sind an dem aktuellen Opernprojekt beteiligt, das einen Tag vor Weihnachten und ein zweites Mal noch einmal zum Jahresende auf dem Programm des Staatenhauses steht. Für einige von ihnen, die Zehnjährigen, ist es der erste Auftritt in der Oper überhaupt, wenngleich es sich diesmal auch nicht um das sonst übliche klassische Musiktheater, sondern „nur“ eine konzertante Inszenierung handelt, die allein von Lichteffekten der Bühnentechnik begleitet wird. Aufregend ist diese „Premiere“ für die jüngsten der Nachwuchssängerinnen und -sänger der Domchöre dennoch. „Das ist einfach cool, hier mitzumachen und den großen Opernchor, mal leise und mal laut, im Rücken zu haben“, ruft Constanze beeindruckt. „Man muss auf vieles gleichzeitig achten, wenn wir an der Reihe sind“, zählt Sophia auf: „Nicht zu früh von den Plätzen aufstehen, pünktlich einsetzen, auf die Dynamik achten und immer von Dirigenten seine Vorstellung dieser Musik abnehmen.“ „Schade nur“, ergänzt ihre Freundin und Namensvetterin Sofia, „dass wir keine Kostüme anhaben und auch nicht in die Maske müssen. Das hätte ich schon gerne mal erlebt.“ Ach ja, und das lange Stillsetzen, während die Solisten dran sind, das sei auch nicht so ohne. Christian, 13 Jahre alt, geht damit schon deutlich abgeklärter um. Er hat sich bereits zum dritten Mal zu einem solchen Projekt gemeldet, weil es ihm einfach großen Spaß macht, und er weiß, dass lange Wartephasen für den Kinderchor immer dazu gehören. „Auf die Musik kommt es doch an“, betont er, „und die hört sich einfach toll an, wenn mehr als 150 Sänger zusammen ‚o fortuna’ singen. Da kann es einem schon mal kalt den Rücken herunterlaufen.“
Die „Carmina Burana“ haben keine Handlung im eigentlichen Sinn. Es gibt keine Individuen, sondern Typen, die ihre Rolle spielen. Auch wenn die Textinhalte bei den drei Werkteilen „Primo vere“, „In Taberna“ und „Cour d’amours“ nicht gerade kindgerecht sind und eher von den (Liebes)Sorgen und Sehnsüchten der Menschen im Mittelalter berichten – am Ende geht es doch um Zeitloses: um die Abenteuer von Spielern und Trinkern, vor allem aber immer um eine damit verbundene große Lebenslust und -freude. Und eine solche steht auch den jüngsten Mitwirkenden dieser Produktion, den kleinen Sängerinnen und Sängern, ins Gesicht geschrieben, wenn sie – unmittelbar hinter dem imposanten Gürzenich-Orchester positioniert – aufmerksam und hochkonzentriert den Blickkontakt mit dem Dirigenten suchen.
Die beiden Aufführungen von „Carmina Burana“ finden am 23. und am 30. Dezember im Deutzer Staatenhaus statt. Mitwirkende sind: Emily Hindrichs, Sopran, John Heuzenroeder, Tenor, Stephan Genz, Bariton, Chor der Oper Köln (Einstudierung Andrew Ollivant), Mädchen und Knaben der Kölner Domchöre (Einstudierung: Eberhard Metternich und Oliver Sperling), Gürzenich-Orchester Köln unter der Leitung von Leo Hussain.
Beatrice Tomasetti